Dies domini – Sechster Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr C/b>
Politik ist die Umsetzung einer Idee in die Tat. Damit das gelingt, braucht es überhaupt erst einmal eine Idee – und danach einen Plan, ein Konzept, das Ressourcen analysiert, Wege und Methoden erörtert und einen Plan entwickelt, der aus der ideellen Theorie in eine ebenso gelebte wie lebbare Praxis führt. Meist wird die reine Idee pragmatisch geläutert. Ohne die reine Idee aber gäbe es wahrscheinlich weder Motivation noch Orientierung, die einem Plan Gestalt geben könnten. Wer auf die Gegenwart von Politik, Gesellschaft, aber auch der Kirche in Deutschlang schaut, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es überhaupt noch eine Idee gibt, wohin man will. Es werden zwar hier wie dort viele Worte gemacht; gleichwohl erscheint die Tatkraft, den Worten auch Wirklichkeit zu verleihen, umgekehrt proportional zum Quantität der Worte. Neben dem Fehlen einer klaren Idee trägt dazu aber auch bei, dass die verfügbaren Ressourcen, seien sie personeller, finanzieller oder materialer Art, weder analysiert, noch berücksichtigt werden. So wird zwar allenthalben nach mehr Personal gerufen – in der Pflege, in den Schulen, für die öffentliche Sicherheit; allein die Frage bleibt unbeantwortet, woher denn die Menschen kommen sollen, die die zweifelsohne vorhandenen personellen Lücken füllen sollen. Selbst wenn es sie der Zahl nach gäbe, stünde die Frage nach der Qualifikation, die an sich ja Zeit und entsprechende Ausbildungsressourcen erfordert, vor einer offenen Antwort. Da kann man zwar träumen und Luftschlösser bauen, nur in der relevanten Wirklichkeit ändert sich nichts – schon gar nicht zum Besten.
Auch in der Kirche kann man das immer wieder erkennen. Schon vor der Corona-Pandemie und der immer größer werdenden Krise, die ihre Ursachen in dem zahlreichen von Klerikern begangenen Missbrauch, der immer offenbarer wird, ausgelöst wird, konnte aufmerksamen Beobachterinnen und Beobachtern kaum verborgen bleiben, dass die Volkskirche ein Phänomen der Vergangenheit ist. Die Selbstverständlichkeit kirchlicher Institutionalität ist schon lange nicht mehr gegeben. Die Ressourcen schwinden – in vielen (Erz-)Bistümern die finanziellen, überall aber auch die personellen. Nicht nur, dass die Zahlen derer, die die Gottesdienste mitfeiern schon seit Jahren und Jahrzehnten rückläufig sind; auch die Kirchenaustrittszahlen weisen steigende, in der jüngeren Vergangenheit (sicher auch ausgelöst durch das Skandalon des klerikalen Missbrauchs) sogar sprunghaft. Entsprechende Studien zeigen, dass die Zahl der Kirchenmitglieder bis zum Jahr 2060 halbiert sein wird; für die Zahl derer, die hauptamtlich in der Pastoral tätig ist, gilt das schon für das Jahr 2030. Das alles hat Auswirkungen auf die anderen Ressourcen – Kirchensteuereinnahmen werden spürbar sinken, Kirchbauten leeren sich, Pfarrheime können kaum noch mit Leben erfüllt werden. Wo aber die materialen und personalen Ressourcen fehlen, wird es immer schwieriger werden, einer Idee Gestalt zu geben. Und das sind nur die vorpandemischen Prognosen. Die Corona-Pandemie wirkt wie ein zusätzlicher Brandbeschleuniger; auch die Unfähigkeit vieler kirchlicher Verantwortungsträger im Umgang mit dem von Klerikern begangenen Missbrauch und der Anerkennung des Leides Betroffener verstärkt den Verfall. Immer mehr wenden sich ab – viele von ihnen nicht, weil ihr Glaube verdunstet wäre, sondern wegen des Glaubens, den sie in einer Kirche, die nicht auf der Seite der Leidenden steht, nicht mehr verwirklicht sehen. Ist also alles schon verloren?
Seit Jahren versuchen die Kirchen in immer neuen Zukunftsprozessen der Herausforderungen Herr zu werden. Meist scheitern die verfassten Konzepte an einer überschätzten Halbwertzeit. Die Zukunft holt sie ein. Das ist das eine; das andere ist, dass die vielen immer neuen Konzepte offenkundig von einer falschen Idee ausgehen – einer Idee nämlich, die sich an einem eingebildeten Status quo der eigenen Heilsnotwendigkeit und Relevanz berauscht, die die Welt der Kirche offenkundig aber nicht mehr zuspricht. Dieser Denkfehler wird oft bis in die untersten Ebenen hinein gemacht. Überall dort nämlich, wo Veränderungsprozesse – und die betreffen aufgrund der inneren Verquickung von Form und Inhalt eben primär auch die Strukturen – anstehen, ruft die Basis danach, dass vor Ort doch bitte alles so bleiben möge, wie es ist. Das ist verständlich, ist der Mensch doch ein Gewohnheitstier. Allein bedeutet dieser Unwille angesichts des unstreitbar steigenden Relevanzverlustes die Beschleunigung des Niedergangs. Die Veränderungen wären ja nicht notwendig, wenn im Status quo alles super wäre. So aber versucht man eine Idee, die längst moribund ist, am Leben zu erhalten – unter Aufbietung und Verschwendung von Ressourcen, die man eigentlich schon lange nicht mehr hat, statt mit einer neuen Idee einen echten Neuanfang zu wagen. Die Idee nämlich ist der Ausgangspunkt eines Konzeptes, aber nicht zwingend der Wesenskern. Für die Kirche ist dieser das Evangelium, die frohe Botschaft von der Auferstehung des Gekreuzigten – jenes Geschehen und Bekenntnis, das für den christlichen Glauben das Fundament schlechthin ist. Paulus jedenfalls ruft in der zweiten Lesung vom sechsten Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres C:
Wenn aber verkündet wird, dass Christus von den Toten auferweckt worden ist, wie können dann einige von euch sagen: Eine Auferstehung der Toten gibt es nicht? Denn wenn Tote nicht auferweckt werden, ist auch Christus nicht auferweckt worden. Wenn aber Christus nicht auferweckt worden ist, dann ist euer Glaube nutzlos und ihr seid immer noch in euren Sünden; und auch die in Christus Entschlafenen sind dann verloren. 1 Korinther 15,12.16-18
Das ist der Kern der Botschaft, für die Kirche einsteht. Für die Verkündigung dieser Botschaft muss sie durch die Zeiten und Räume immer neue Formen finden, um ihr Gestalt zu geben – kurz: sie muss immer neue Ideen finden und verwirklichen, um dem Wesenskern gerecht zu werden. Über Jahrzehnte war das in der jüngeren Vergangenheit etwa die klassische Pfarrei, die in einer Volkskirche dort wo die Menschen lebten, in den Dörfern, Stadtteilen und Quartieren nah bei den Häusern war – so nah, dass die Menschen kommen konnten, wenn Gottesdienst gefeiert wurde; so nah, dass man in Zeiten vorhandener personeller Ressourcen, die Menschen be- und aufsuchen konnte – und zwar (fast) alle mindestens einmal im Jahr. Diese Zeiten sind vorbei. Die Ressourcen fehlen, die Pfarreien und seelsorglichen Einheiten wurden größer, die Menschen mobiler usw. usw. Die alte Idee funktioniert einfach nicht mehr. Trotzdem halten viele von den Wenigen, die sich noch engagieren, an der alten Form fest: Die Pfarrei, „meine Pfarrei“ soll so bleiben, wie sie ist …
Das hat zwar viel mit Vereinsmeierei, aber wenig mit der Idee zu tun, dem Evangelium Gestalt zu geben. Die Botschaft Jesu spielt da, wo nur das Gewohnte bewahrt wird, eben keine Rolle mehr. Sein Auftrag nämlich lautet:
Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium der ganzen Schöpfung! Markus 16,15
Nirgends gibt es den Auftrag, Häuser zu bauen und Pfarrheime und den Bestand zu erhalten. Solche Dinge können sinnvoll sein, zu Zeiten, wo man sie braucht, um dem Auftrag Jesu und dem Evangelium gerecht zu werden. Offenkundig sind nun aber neue Ideen erforderlich, um unter Berücksichtigung der gegenwärtig verfügbaren Ressourcen dem Auftrag Jesu gerecht zu werden. Neue Zeiten erfordern neue Ideen.
Das Evangelium vom sechsten Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres C kann da ideenanregend sein. Es bildet leider nur eine Ausschnitt aus einem größeren Ganzen. Nach dem Beginn des öffentlichen Wirkens, der Sammlung der ersten Jünger und der ersten Heilungen, die zeigen, dass die Tat immer vor dem Wort geht und jedes Wort die Bestätigung durch die Tat braucht, schildert Lukas, dass Jesus sich zurückzieht:
Es geschah aber in diesen Tagen, dass er auf einen Berg ging, um zu beten. Und er verbrachte die ganze Nacht im Gebet zu Gott. Lukas 6,12
Offenkundig spürt Jesus, dass es Zeit ist, seiner Sendung eine organisatorische Form zu geben, die in seine Zeit passt und den Menschen seiner Zeit gerecht wird. Er braucht eine Idee – und die entwickelt sich offenkundig betend in der Nacht auf dem Berg. Als es nämlich Tag wurde,
rief er seine Jünger zu sich und wählte aus ihnen zwölf aus; sie nannte er auch Apostel: Simon, den er auch Petrus nannte, und dessen Bruder Andreas, Jakobus, Johannes, Philippus, Bartholomäus, Matthäus, Thomas, Jakobus, den Sohn des Alphäus, Simon, genannt der Zelot, Judas, den Sohn des Jakobus, und Judas Iskariot, der zum Verräter wurde. Lukas 6,13-16
Hier setzt das Evangelium vom sechsten Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres C ein, wenn Jesus mit dieser eben konstituierten Gruppe vom Berg herabsteigt. Die Konstitution ist alles andere als zufällig. Die Zwölfzahl vergegenwärtigt die zwölf Stämme Israels, die auf die zwölf Söhne Jakobs zurückgehen. Das ist die Botschaft, die Jesus aussendet: So wie Israel sich in den zwölf Stämmen, die auf die Söhne Jakobs zurückgehen, gründete, so soll das Volk Gottes nun in den zwölf Aposteln restituiert werden. Der organisatorischen Form entspricht die personale Ressource. Ihr folgt eine inhaltliche Konzeption, ein Programm, das Lukas dokumentiert:
Selig, ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes. Selig, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet gesättigt werden. Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und wenn sie euch ausstoßen und schmähen und euren Namen in Verruf bringen um des Menschensohnes willen. Freut euch und jauchzt an jenem Tag; denn siehe, euer Lohn im Himmel wird groß sein. Lukas 6,20-23
Dabei schenkt Jesus seinen Leuten reinen Wein ein. Wer in seinem Namen unterwegs ist, muss sich auf Krisen, Anfragen und Anfeindungen einstellen. Die frohe Botschaft ist offenkundig nicht ohne Anstrengungen zu haben, wie schon die Propheten erfahren mussten (vgl. Lukas 6,23c). Gerade das Beispiel der Propheten aber zeigt, dass vom Ende her gedacht werden muss. Die, die zu Lebzeiten gedemütigt wurden, erweisen sich in der Rückschau als diejenigen, deren Idee schlussendlich wegweisen war. Deshalb warnt Jesus diejenigen, die nur an den eigenen Bestand denken:
Doch weh euch, ihr Reichen; denn ihr habt euren Trost schon empfangen. Weh euch, die ihr jetzt satt seid; denn ihr werdet hungern. Weh, die ihr jetzt lacht; denn ihr werdet klagen und weinen. Weh, wenn euch alle Menschen loben. Denn ebenso haben es ihre Väter mit den falschen Propheten gemacht. Lukas 6,24-26
Tatsächlich wird Jesus selbst im Lukasevangelium noch zu Zeiten seines irdischen Lebens eine neue Idee entwickeln, um seiner Sendung gerecht werden zu können. Der wachsende Erfolg erfordert die Erschließung neuer Ressourcen. Nach seinem Aufbruch nach Jerusalem in Lukas 9,51 sendet er 72 andere aus, um die frohe Botschaft in Tat und Wort zu verkünden (vgl. Lukas 10,1). Die Symbolzahl der Zwölf war sicher nicht unwichtig geworden; es brauchte aber neue Ideen – und Jesus reagiert. Er denkt nämlich vom Ende her, wenn er an die 72 spricht:
Wer euch hört, der hört mich, und wer euch ablehnt, der lehnt mich ab; wer aber mich ablehnt, der lehnt den ab, der mich gesandt hat. Lukas 10,16
So mussten durch die Zeiten und Räume immer neue Ideen entwickelt werden, um dem Evangelium Gestalt zu geben. Da gab es Wüstenväter, Äbtissinnen, Klöster und Orden, später auch Pfarreien und Gemeinden. Die Kirche musste immer wieder neue Ideen entwickeln, um dem Evangelium eine lebendige Gestalt zu geben. Offenkundig ist es wieder so weit. Wenn die alten Formen ihre Zeit gehabt haben, sollte man neue finden, statt die alten künstlich aber mit erkennbarem Nichterfolg dahinvegetieren zu lassen. Die noch vorhandenen Ressourcen sollten gut investiert und nicht verschwendet werden. Immer noch gilt es, vom Ende her zu denken: Wie kann das Evangelium heute der ganzen Schöpfung verkündet werden. Es braucht endlich neue Ideen für diesen Auftrag!
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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